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Mouches volantes als Inspirationsquelle für Carlos Castaneda? - Teil 3


DAS BEWUSSTSEIN SEHEN

Geschrieben von Floco Tausin am 04. Februar 2006 11:59:38:

Teil 3: Generelle Unterschiede

Der dritte Teil fragt nach generellen praktischen und ideologischen Unterschieden in der Lehre des Don Juan und des Nestor. Dazu gehört die Beziehung der subjektiven visuellen Phänomene zur empirischen Welt, die Manipulation der physischen Welt in Castanedas Büchern und der Begriff des Sehens.


1) Die Beziehung der kugelförmigen Phänomene zur physischen Welt

Ein wichtiger Unterschied zwischen den Lehren von Nestor und DJ ist das Verhältnis zwischen der physischen Welt und der Kugelgebilde in intensiveren Bewusstseinszuständen: Bei CC werden solche „Kokons“ stark mit Gegenständen oder Personen identifiziert; diese Identifikation ist keine intellektuelle Übung sondern wird visuell erfahren. Beispiele sind solche Stellen, wo CC Menschen in einer Blase sieht, bzw. leuchtende Hüllen, die die menschlichen Körper umgeben (obwohl sich andernorts das Sehen der physischen Körper und der Eier gegenseitig ausschliessen). Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch das Kapitel „Zusammen sehen“ im sechsten Buch, wo diesen Eiern eine so objektive Realität eingeräumt wird, dass CC und La Gorda sie gemeinsam sehen und sich darüber unterhalten können. Diese unmittelbare Identifikation erlaubt es, aufgrund der Eigenschaften des Kokons und der Fasern Rückschlüsse auf die Bewusstheit des gesehenen Menschen, seine Gefühlsverfassung, sogar seine Absichten etc. zu machen.

Nach Nestor entspringt diese Vorstellung zu sehr der Fantasie und hat mit dem Wunsch des Menschen zu tun, seine Mitmenschen eindeutig und auf einen Blick direkt durchschauen und beurteilen zu können. Die für die meisten Menschen wahrnehmbaren Mouches volantes hingegen gleiten über die materiellen Gegenstände hinweg; nur in den fortgeschrittenen, sehr intensiven Bewusstseinszuständen vereinigen sie sich als Leuchtstruktur mit dem betrachteten Gegenstand; dies bedeutet, dass die Leuchtstruktur den Gegenstand strukturiert, nämlich aufteilt in Licht und Materie, wobei die empirische Realität sich nunmehr an den Rändern der mit Licht durchfluteten Struktur abspielt. In diesem Moment erhält ein Seher zwar ein direktes Wissen über das menschliche Bewusstsein und das Bild als Ganzes, doch dieses Wissen darf nicht mit spezifischen Gedanken oder Gefühlen verwechselt werden, welche sich exklusiv auf den konkret angeschauten Gegenstand beziehen – denn komplexe Gedanken und Emotionen zu haben sind energieverschlingende Handlungen und gehen auf Kosten des Sehens. Die gedankliche und gefühlsmässige Ausformulierung des Gesehenen, ist etwas, das erst in einem zweiten Schritt erfolgt: So ist Nestor beispielsweise mit CC durchaus der Ansicht, dass es sich bei den Leuchtkugeln um die kleinste Einheit dessen handelt, was uns im Kern ausmacht: Bewusstsein. Doch diese Verknüpfung kann nicht direkt gesehen werden, sondern ist Teil von Nestors Sehtheorie.


2) Die Manipulation der physischen Welt

Es bleibt aber nicht bei der blossen Beurteilung der physischen Welt aufgrund des Sehens; das Sehen ermöglicht bei CC sogar deren Manipulation. Insgesamt legt CC viel Gewicht auf den physischen Kontakt mit energetischen Kugel- oder Linienerscheinungen. Von da ist der Gedankensprung, dass man auf diese Energielinien und -kugeln sowie auf die von ihnen zusammengesetzte Welt einwirken kann, klein. Programmatisch ist die Vorstellung, dass Energiekugeln oder -linien bewusst „ergriffen“ und als Fortbewegungsmittel gebraucht werden können, um Distanzen körperlich zu überwinden.

Hier klaffen die Lehren von DJ und Nestor auseinander. Nestor zufolge ist eine solche Vorstellung widersprüchlich, da seinen Erfahrungen gemäss die Energie entweder für das Handeln oder aber für das Sehen gebraucht wird. D.h. das intensive Sehen der Bewusstseinsstruktur ist eine selbstgenügsame reine Beobachtung, und jede (körperliche, emotionale, gedankliche) Handlung würde, wie oben festgestellt, Energie von der Leuchtstruktur abziehen und diese Wahrnehmung daher empfindlich beeinträchtigen. Meiner Ansicht nach arbeitet CC hier mit menschlichen Idealen, Bildern, die wir uns seit Alters her von „Heiligen“ und „Erleuchteten“ und „Visionären“ machen, welche körperliche und geistige Wunderkräfte einschliessen – Wunderkräfte, wie sie beispielsweise in Comic-Helden à la Superman auf die Spitze getrieben werden. Das für Menschen Wichtigste an solchen Wunderkräften ist ihre Objektivierbarkeit: Man kann sie sehen, erleben, empfinden.

Solche Kräfte sind laut Nestor zwar keine reine Erfindung, da Energie zunächst im Körper angesammelt werden muss und ein energiereicher menschlicher Körper tatsächlich zu erstaunlichen Leistungen fähig ist. Nach Nestor sind solche körperlichen (auch emotionalen und gedanklichen) Leistungen jedoch zwiespältig: Sie sind zugleich Ausdruck einer bewundernswerten Konsequenz und eines starken Willens, die für die Bewusstseinsentwicklung unabdingbar sind; sie zeugen aber auch davon, dass der Übende seine Energie zum grössten Teil durch absichtsvolle, persönlichkeitsbezogene und damit auch egoistische Handlungen abgeben muss – was erst überwunden werden kann, wenn wir nicht nur genügend Energie, sondern auch die Offenheit und Entspannung haben, um überschüssige Energie durch Ekstase direkt in das Bild als ein Ganzes zu geben. Spektakuläre körperliche Höchstleistungen sind daher eine Vorstufe kurz bevor sich der Körper endgültig öffnet und die immense aufgesparte Energie in das Bild entweichen lässt – was den seherischen Effekt eines näherkommenden Bildes und der damit verbundenen Bewusstseinsstruktur zur Folge hat.


3) Der Begriff des „Sehens“

CCs Konzept des „Sehens“ ist untrennbar mit der physischen Realität im Sinne ihrer absichtsvollen Manipulation und Beurteilung verknüpft: Handlungen wie der Nagual-Schlag oder das Ergreifen von Energielinien zwecks körperlicher Fortbewegung setzen das Sehen voraus. Und das Sehen bezieht sich bei CC auch auf die Alltagsrealität, so dass die Inhalte erweiterter Wahrnehmung materiellen Objekten zugeordnet werden können und es möglich ist, „zusammen zu sehen“.

Nach Nestors Auffassung hingegen kann das Sehen, wie oben festgestellt, nicht gleichzeitig mit manipulativen Aktivitäten einhergehen, auch nicht mit der Beurteilung von physischen Gegenständen oder Menschen. Ein solches Sehen wäre nicht unmittelbar genug, da es mit Gedanken und Absichten verbunden ist – gebundene Energie, die in diesem Moment nicht für das Sehen selbst investiert werden kann. Eine ähnliche Vorstellung treffen wir bei CC nur an einer Stelle an, nämlich im zweiten Buch, wo DJ das Sehen scharf von der manipulativen Zauberei abgrenzt; das Sehen lasse uns die Unwichtigkeit aller Dinge erkennen und hätte keine Auswirkungen auf die Mitmenschen. Sehen sei die Wahrnehmung der Dinge, wie sie wirklich sind. Traumwahrnehmungen dagegen (wie z.B. der grüne Nebel) werden lediglich als Beinahe-Sehen bewertet.

Diese Passage ist jedoch ein Einzelfall. Alles in allem deckt das Sehen bei CC jedoch ein viel breiteres Spektrum ab: Sehen meint:
1) ein Zukunfts- oder Hellsehen bzw. ein Durchschauen, d.h. ein intuitives Erfassen von verborgenen Gefühlen, Charaktereigenschaften und Motiven, das visuell sein kann, aber nicht muss;
2) das Erfahren von traumartigen Sequenzen sowie von unheimlichen Wesen wie der Verbündete oder der „Wächter“;
3) die Wahrnehmung unvertrauter und abstrakter energetischer Strukturen, z.T. in Verbindung mit Punkt 1 und 2;
4) Sehen steht zudem in unmittelbarem Zusammenhang mit Leistungen der Zauberei wie paranormale Fortbewegung und Nagual-Schlag; und oft auch mit dem Sehen von Farbnuancen, welche konkrete Informationen über den betrachteten Gegenstand liefern sollen.

Nestors Begriff des Sehens dagegen beschränkt sich zunächst auf die Wahrnehmung von abstrakten energetischen Strukturen (Mouches volantes), geht aber in sehr intensiven Bewusstseinszuständen einher mit der entspannenden Ekstase sowie dem „direkten Wissen“, einer Intuition über den Ursprung und die grossen Zusamenhänge unseres Daseins.



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